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Montag, 31. Oktober 2011

Merkwürdige Allianz

In der konservativen Kirchenecke kreucht und fleucht ja so einiges, oder sollte man nicht besser sagen - dackelt und schlängelt – und die Interessantesten unter ihnen sind die vermutlich von allerhöchster Stelle autorisierten Deuterinnen und Deuter der eher unkonkreten und phantasieanregenden Reden des Papstes während seines Deutschlandbesuches.

Unter der vom Papst empfohlenen Entweltlichung wird dabei regelmäßig der Verzicht auf Kirchensteuern empfohlen – oder sollten wir nicht besser sagen, als unbedingte Bedingung verstanden, den Worten des Heiligen Vaters entsprechend zu wandeln und handeln.

Dabei sollte man mal genauer hinschauen, welche Folgen das haben könnte. Für mich als einfachen Kleinstadtpfarrer: Vermutlich bekomme ich 500 € weniger. Netto versteht sich. Schließlich werde ich aus Kirchensteuermitteln bezahlt. Mich als sparsamer Spät- und Altachtundsechziger ärgert das vermutlich weniger als die gestylten Jungkleriker, die neben Soutane, mehreren passenden Messgewändern und diversen Rochetts natürlich auch mehr Wert auf ihre Zivilkleidung legen, oder, die beste Kombination: Klerikerkragen oben, Designerjeans ab Mitte abwärts.
Für unsere Gemeinde: Das meiste Geld stecken wir in die Kindergärten. 12 % Trägeranteil. Damit wäre Schluss. Was die Städte ärgern würde, denn dann wären wir arme Träger. Zudem hätten wir vermutlich weniger Pastoralreferenten. Wer deren Wegfall kompensieren könnte, wäre tatsächlich ein spannendes Thema. Vielleicht die Priester, die ja ohnehin alle unter Langeweile stöhnen.
Vermutlich dürften wir uns auch schneller als jetzt von vielen Kirchengebäuden trennen (schließlich kostet die Instandhaltung nicht wenig Geld). Heißer Tipp für alle, die protestieren werden: Schon jetzt merken, wer die Abrisssuppe mit einbrockt!
Die meisten kirchlichen Bildungseinrichtungen könnten dicht machen. Für die konservative Ecke sind diese ohnehin ein suspekter Hort anrüchiger Theologie. Was nur bedeutet, dass diese schon lange keine kirchliche Bildungseinrichtung mehr besucht haben. Zum Wochenende „Liturgie nach den Ideen des 2. Vatikanischen Konzils“ hat sich in den letzten gefühlten 100 Jahren niemand mehr angemeldet.
Wen es so richtig ärgern wird: Die Generalvikariate. Haushaltskontrolle, Innenrevision, Kontrolle der Pfarrgemeinden, Fachstellen –alles vorbei. Entweder kein Geld oder keine Notwendigkeit.

Vermutlich wird ein neues System der Finanzierung erfunden. Freiwillige Abgabe an die Gemeinde. Ich werde vermutlich ein wenig moderner, freundlicher, fortschrittlicher predigen dürfen (schließlich soll man die Kuh streicheln, die die Milch gibt). Und was die große Mehrheit der Leute hier denkt und wünscht, weiß ich inzwischen ziemlich gut. Von den Einnahmen werden wir einen Teil ans Bistum weiterleiten dürfen – damit auch die ärmeren Gemeinden ihre Priester nicht halbtags in die Fabrik schicken müssen.
Ganz Findige werden allerdings, um diesen Abzug zu vermeiden, ihr Geld lieber dahin stecken, was jetzt schon so manches in der Gemeindearbeit finanziert: Stiftungen, Fördervereine. Da, das sei angemerkt, entscheiden allerdings mehrheitlich die sogenannten Laien, was sie unterstützen und was nicht.

Wenn mich mein Erinnerungsvermögen nicht ganz täuscht, sind die jetzigen Befürworter der Kirchensteuerabschaffung nicht ganz unidentisch mit einer Reihe derer, die vor einiger Zeit sich in einer gewissen Petition „deutlich und vernehmbar an die Seite unserer Bischöfe stellen“ wollten, inzwischen mit den besten Bundesgenossen bei den Linken und Teilen der Kleinstparte FDP. Welch wunderbare Allianz, die zu allerlei Phantasien Anlass geben könnte.
Ich vermute, die so an die Seite gestellten Bischöfe denken schon mächtig darüber nach, wie sie ihrer Dankbarkeit für diese freundliche Unterstützung angemessenen Ausdruck verleihen können.

Dienstag, 25. Oktober 2011

Kopfkino mit Borgia

Eine wie soll es auch sonst sein unangenehme Erkältung legte mir nahe, gestern Abend den Pfarrgemeinderat von meinen Bazillen und ähnlichen zu verschonen und mir einen ruhigen Abend mit zwei Paracetamol, einem warmen Bett und… zu genehmigen. Und? Klar, ein Teil der deutschen Nation erfreut sich fernseherisch an Sex, Crime and Vatican, Borgia in sechs Teilen, zu viel Sex and Crime, um historisch plausibel zu sein, aber dennoch bleibt mehr als genug, um frommen Katholiken die Schamesröte ins Gesicht zu treiben.
Statt des Fernsehens allerdings bevorzugte ich Kopfkino mit der historisch wesentlich sorgfältigeren Darstellung "Kulturgeschichte der Menschheit Bd. 8" von Durant, welche überraschende Einsichten bescherte: Dass es vor allem katholische Forscher sind, die Alexander VI. überaus schlecht zeichnen (Hubert Jedin: „Der absolute Tiefpunkt des Papsttums“). Dass protestantische wesentlich milder urteilen. Dass seine Privatbriefe, selbst an Guila Farnese, die Schönheit schlechthin, mit religiösen Wendungen durchzogen sind. Dass er Satire und Kritik, worin die Römer immer stark waren, ausgesprochen gelassen hinnahm. Dass seine Tafel so wenig üppig bestellt war, dass die Kardinäle sie nach Möglichkeit mieden.

Am Schönsten aber ist die Zusammenfassung von Durant: „Alle jene unter uns, die gleich Alexander für den Zauber weiblicher Reize nicht unempfindlich sind, bringen es nicht übers Herz, ihn seiner Schwäche wegen zu steinigen. Seine Abirrungen vom geraden Weg waren nicht skandalöser als die von Enea Silvio Piccolomini, der bei den Historikern so gut angeschrieben ist, oder von Julius II., dem die Nachwelt gnädig verziehen hat. Man weiß nichts davon, dass diese beiden Päpste so liebevoll für ihre Mätressen und Kinder sorgten, wie dies Alexander tat… Er wäre ein ehrenwerter Mann gewesen, wenn nur die Gesetze der Kirche die Priesterehe – wie sie … das Italien der Renaissance wenigstens in der Praxis kannte – zugelassen hätten. Er sündigte nicht gegen die Natur, sondern gegen ein Gebot der Ehelosigkeit, das bald einmal von der Hälfte der Christenheit verworfen werden sollte.“

Die Römer jedenfalls haben ihm DAS jedenfalls nicht übel genommen. Viel spannender fanden sie, wie er Guila so lange bei Laune halten konnte… 

Freitag, 21. Oktober 2011

Die Köpfe der Hydra

Al-Gaddafi ist tot. Das Volk jubelt, und auch vielen westlichen Politikern scheint das Ende des Diktators sympathisch zu sein. Es ist zu vermuten, dass da auch ein paar persönliche Gründe mit eine Rolle spielen. Denn Tote können nichts mehr erzählen: Davon, wie man ihn im wahrsten Sinn des Wortes seine Zelte aufschlagen ließ in Rom, New York oder Paris, wie er im Jahr 2000 hoffnungsvoll heimgesucht wurde von Möllemann mit einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation, wie er gerne Rüstungsgeschäfte mit westlichen Ländern machte und genau die Waffen kaufte, gegen die die UN dann anschließend zu Felde ziehen konnte, wie er wegen seines Öls hofiert und gepflegt wurde. Vieles könnte er erzählen, wenn er noch könnte. Er kann aber nicht mehr. Was irgendwie auch schade ist. 

Denn das gilt für al-Gaddafi und wen auch immer: Es sind nicht nur und zuerst die Köpfe, die das System bestimmen und prägen. Es sind Hintermänner und Hinterfrauen, es sind Sympathisanten und Unterstützer, es ist ein weitverzweigtes Netz, was die Köpfe zu dem werden lässt, was sie sind. Unverdächtiges Beispiel: die Kehrtwendung eines Obama im Blick auf Guantanamo und andere ambitionierte Menschenrechtsziele. Den Wahlkampf gewonnen hat er als Person. Regieren kann er nur an den Strippen des Systems hängend. 

Al-Gaddafi ist tot. Doch leider ist es manchmal wie in der griechischen Sagenwelt. Es wachsen neue, ähnliche Köpfe, nur anders geschminkt. Und längst ziehen andere wieder die Strippen, so lange, bis der Zeitpunkt gekommen ist, den Kopf fallen zu lassen und einen neuen, unverdächtigen zu erschaffen.

Montag, 17. Oktober 2011

Von genusssüchtigen Päpsten und frommen Kirchenwächtern

Jeder Rombesucher, sollte er kein völlig barbarischer Ignorant sein, steht ergriffen vor den Madonnenbildern eines Raffael, schaut andächtig in der Sixtinischen Kapelle zu den Gemälden von Michelangelo hinauf, staunt über die Peterskirche, erfreut sich an zahllosen Brunnen, wandelt kulturfasziniert durch Kirchen, und, wenn er einen guten Reiseführer hat (schriftlich oder mündlich), werden ihm auch die Dimensionen der Frömmigkeit erschlossen, die aus all diesen Werken aufstrahlt.

Umso unangenehmer – für einen braven Katholiken, eine brave Katholikin – ist es, wenn er oder sie ab heute Abend (17.10) zur besten Sendezeit mit den Gräueltaten und Ausschweifungen von Borgia und Konsorten konfrontiert wird, Sex and Crime hoch zehn in allen Schattierungen und Spiel- und Abarten, die jeden kultivierten Abendländer erzittern und erschaudern lassen. Doch genau das ist der zeitgeschichtliche Hintergrund fürs fromme Staunen und Wundern. Leider ist das eine ohne das andere nicht zu haben.

Alles nur Produkte der Phantasie des Drehbuchautors, versuchen die Kirchenoberen ihre Schäfchen zu beruhigen, alles übertrieben, alles Wühlen im alten Dreckschlamm. Was leider nicht so ganz richtig ist. Selbst wenn man die Hälfte von dem streicht, was man da präsentiert bekommt, kann man mehr als nur das Gesicht verziehen.

Was für Zeiten, mag man denken, nicht wissend, ob man sich eher ekeln oder wundern soll. Was für Zeiten heute, mag man vielleicht aber auch denken, wo schon allein das Nachdenken über den Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen, die Rolle von Frauen in der Kirche, Kondome in Afrika und die Akzeptanz von Homosexuellen in den Augen der schmallippigen und süßsauerblickenden Kirchenwächter und –Kirchenwächterinnen zu einem hundertprozentigen Untergang des römisch-katholischen Glaubens führen wird. 

Lernt aus der Geschichte: Es war kein Alexander VI., kein Sixuts IV., kein Leo X. („Da Gott Uns das Pontifikat verliehen hat, so lasst es Uns denn genießen“), die der Kirche den Untergang bereiteten. Die allerreinste Lehre allerdings (wobei das immer auch eine Frage der theologischen Perspektive ist, was denn nun wirklich allerreinste Lehre ist und was nicht), mag zwar klinisch frei sein von bösen Bazillen und Viren, aber ob sie jemanden wirklich religiös erfreut und das Herz erwärmt, das ist alles andere als erwiesen.

Montag, 3. Oktober 2011

Freunde wie Sand am Meer

Inzwischen habe ich 126 Freunde. Morgen vielleicht 127. Übermorgen vielleicht 124. So genau kann man das nicht vorhersagen, doch eines ist sicher: So viele habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gehabt. Tatsächlich gibt es nur wenige Menschen, die ich als (wirkliche, enge) Freunde bezeichnen würde, auch wenn Facebook mir was anderes vorgaukelt. Spannenderweise bin ich mit der Hälfte von ihnen gar nicht bei Facebook "befreundet". Doch: Steter Tropfen höhlt den Stein? Wer stündlich liest, dass er 523 Freunde hat, glaubt es irgendwann selbst.

Von diesen 126 (Stand: 3.10. 12.49 Uhr) kenne ich fast alle persönlich, Bekannte aus meinen Arbeitsstellen, solche, die ich irgendwo irgendwie kennengelernt habe, eine ziemlich bunte Mischung. Mit zehn oder fünfzehn „chatte“ ich hin und wieder, Informationsaustausch, ein paar Zeilen, viel Frotzelei. Bei meiner Fahrradtour war es reizvoll, möglichst vielen zu zeigen, wo ich gerade stecke, Kommentare durchzulesen, sich über Aufmunterungen zu freuen und ähnliches. All das macht Spaß, sorgt für Abwechslung und für eine Art von "Schlichtkommunikation".  Aber das sind dann auch die Grenzen. Ob jemand gerade unter Blähungen leidet oder mit dem linken Fuß aufsteht, ob jemand öffentlich seiner Freundin ein paar Herzchen schickt: All das ist nun wirklich ziemlich uninteressant und manchmal ein Fall von fortschreitendem Exhibitionismus, so nach dem Motto: Bei mir ist alles spannend, selbst das vor sieben Jahren besiegte Hühnerauge.

Was mir ist immer noch nicht klar ist, warum man sich beim Chatten die Finger krumm und hornhautig schreibt, aber nicht zum Hörer greifen kann (klar. Häufiges Sich-Besuchen geht heute nicht mehr so gut, kostet ja einfach zu viel Zeit, die einem dann bei Facebook und Konsorten fehlt...). Ich bin tief beeindruckt, wie manche jeden Tag genauso viele Freunde einsammeln wie ich derzeit Äpfel im Garten ernte. Nun hat Facebook zumindest den Vorteil, dass man bei fast allen weiß, wer tatsächlich dahinter steht. Klar gibt es auch hier Faker, aber die schaffen es in der Regel höchstens für ein paar Tage, jemand bei Schreiblaune zu halten.

Schräger sind die Foren, wo Leute ihre Identität verheimlichen können, aus welchen Gründen auch immer. Wer anonyme Kommentare zu Online-Meldungen von Nachrichtendiensten liest, kann eigentlich nur eine Erkenntnis gewinnen, diese allerdings in vielfacher Ausfertigung: Wer anonym schreiben kann, verliert früher oder später alle Hemmungen. Mal so richtig die fiese Sau rauszulassen, die ganze Klaviatur der Unhöflichkeiten, virtuos beherrschend.

Wir lernen daraus vor allem eine Sache: Viel mehr Zeitgenossen als wir meinen haben tief in sich drin eine reichhaltig ausgestattete Schmutz- und Dreckkiste. Höflichkeit gibt es bei vielen wohl nur aus Angst, ansonsten unangenehme Konsequenzen erleben zu dürfen. Eine wirklich innere Grundhaltung ist sie bei den allerwenigsten.

Wir verlernen aber etwas anders: Bei der permanenten Akquisition neuer Kontakte, neuer sog. Freunde gehen einem früher oder später die alten verloren. Mag ja sein, dass jeder, jede Neue ihren Reiz habt. Aber wer andere Menschen vorwiegend mit der Brille aus Optionen und Projektionen betrachtet, wird früher oder später ziemlich allein aufwachen. Die alten sind weg. Und die neuen sind Luftblasen, die nur für ein paar Augenblicke schillern.

Samstag, 1. Oktober 2011

Erntedank im Hinterhof

In vielen Kirchen ist der Erntedankgottesdienst fest in Kindergartenhand. Niedliche Kinder singen fröhliche Weisen über Äpfel und Kartoffeln und Gottes Güte, mit strahlenden Minen, von eifrigen Erzieherinnen animiert.

Dabei ist der Tag mehr als grausig. Denn die vom Kirchenjahr verordnete Dankbarkeit ist völlig inkompatibel zum Umgang mit Lebensmitteln in Deutschland. Jeder Europäer und  Nordamerikaner wirft im Schnitt 100 kg Lebensmittel im Jahr weg, und zwar essbare Lebensmittel. In Deutschland sind das 20 Millionen Tonnen, ein Drittel davon ungeöffnet, weil das sogenannte MHD überschritten ist. Supermärkte fangen bereits zwei oder drei Tage vor diesem Datum an, die Regale auszusortieren. Und das ist nicht alles. Jede zweite Kartoffel zum Beispiel bleibt auf dem Feld liegen, weil sie den Standards der Supermärkte nicht genügt. Über die „Produktion“ von Hühnern könnte man seitenweise schreiben. (Die Konsequenzen, die ich daraus ziehe, verschweige ich diesmal. Ich fürchte die Rache jüngerer und älterer Mädchen.)

Alles ein Skandal, angesichts zunehmend verfetteter Europäer und Nordamerikaner und einer Milliarden Menschen, die anderswo hungern müssen.

Inzwischen gibt es sogenannte Mülltaucher, die nachts in den Hinterhöfen der Supermärkte fündig werden. Sie sind auf dem richtigen Weg. Bier zum Beispiel ist mehrere Jahre nach Ablauf des MHD trinkbar, H-Milch mehrere Wochen, Saft im Karton acht Monate, vakuumverpackter Hartkäse länger als ein Jahr: Das ist eine ganz besondere Weise von Erntedank: Nachernte der Überfluss- und Wegwerfgesellschaft. Nicht die Schlechteste.