sicht-wechsel

Montag, 3. Oktober 2011

Freunde wie Sand am Meer

Inzwischen habe ich 126 Freunde. Morgen vielleicht 127. Übermorgen vielleicht 124. So genau kann man das nicht vorhersagen, doch eines ist sicher: So viele habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gehabt. Tatsächlich gibt es nur wenige Menschen, die ich als (wirkliche, enge) Freunde bezeichnen würde, auch wenn Facebook mir was anderes vorgaukelt. Spannenderweise bin ich mit der Hälfte von ihnen gar nicht bei Facebook "befreundet". Doch: Steter Tropfen höhlt den Stein? Wer stündlich liest, dass er 523 Freunde hat, glaubt es irgendwann selbst.

Von diesen 126 (Stand: 3.10. 12.49 Uhr) kenne ich fast alle persönlich, Bekannte aus meinen Arbeitsstellen, solche, die ich irgendwo irgendwie kennengelernt habe, eine ziemlich bunte Mischung. Mit zehn oder fünfzehn „chatte“ ich hin und wieder, Informationsaustausch, ein paar Zeilen, viel Frotzelei. Bei meiner Fahrradtour war es reizvoll, möglichst vielen zu zeigen, wo ich gerade stecke, Kommentare durchzulesen, sich über Aufmunterungen zu freuen und ähnliches. All das macht Spaß, sorgt für Abwechslung und für eine Art von "Schlichtkommunikation".  Aber das sind dann auch die Grenzen. Ob jemand gerade unter Blähungen leidet oder mit dem linken Fuß aufsteht, ob jemand öffentlich seiner Freundin ein paar Herzchen schickt: All das ist nun wirklich ziemlich uninteressant und manchmal ein Fall von fortschreitendem Exhibitionismus, so nach dem Motto: Bei mir ist alles spannend, selbst das vor sieben Jahren besiegte Hühnerauge.

Was mir ist immer noch nicht klar ist, warum man sich beim Chatten die Finger krumm und hornhautig schreibt, aber nicht zum Hörer greifen kann (klar. Häufiges Sich-Besuchen geht heute nicht mehr so gut, kostet ja einfach zu viel Zeit, die einem dann bei Facebook und Konsorten fehlt...). Ich bin tief beeindruckt, wie manche jeden Tag genauso viele Freunde einsammeln wie ich derzeit Äpfel im Garten ernte. Nun hat Facebook zumindest den Vorteil, dass man bei fast allen weiß, wer tatsächlich dahinter steht. Klar gibt es auch hier Faker, aber die schaffen es in der Regel höchstens für ein paar Tage, jemand bei Schreiblaune zu halten.

Schräger sind die Foren, wo Leute ihre Identität verheimlichen können, aus welchen Gründen auch immer. Wer anonyme Kommentare zu Online-Meldungen von Nachrichtendiensten liest, kann eigentlich nur eine Erkenntnis gewinnen, diese allerdings in vielfacher Ausfertigung: Wer anonym schreiben kann, verliert früher oder später alle Hemmungen. Mal so richtig die fiese Sau rauszulassen, die ganze Klaviatur der Unhöflichkeiten, virtuos beherrschend.

Wir lernen daraus vor allem eine Sache: Viel mehr Zeitgenossen als wir meinen haben tief in sich drin eine reichhaltig ausgestattete Schmutz- und Dreckkiste. Höflichkeit gibt es bei vielen wohl nur aus Angst, ansonsten unangenehme Konsequenzen erleben zu dürfen. Eine wirklich innere Grundhaltung ist sie bei den allerwenigsten.

Wir verlernen aber etwas anders: Bei der permanenten Akquisition neuer Kontakte, neuer sog. Freunde gehen einem früher oder später die alten verloren. Mag ja sein, dass jeder, jede Neue ihren Reiz habt. Aber wer andere Menschen vorwiegend mit der Brille aus Optionen und Projektionen betrachtet, wird früher oder später ziemlich allein aufwachen. Die alten sind weg. Und die neuen sind Luftblasen, die nur für ein paar Augenblicke schillern.

2 Kommentare:

  1. "Schräger sind die Foren, wo Leute ihre Identität verheimlichen können, aus welchen Gründen auch immer.".......und mit den Menschen ein "schräges" Spiel treiben, die es ehrlich meinen. Aber das entspricht ja den Verhaltensmustern der katholischen Kirche.

    AntwortenLöschen